Der 8. Mai

Der 8. Mai 1945 war nicht der 11. November 1918. Abgesehen von den offensichtlichen Unterschieden im Datum unterscheiden sich die beiden Kriegsenden auch sonst. Der Erste Weltkrieg endete für das Deutsche Reich zwar auch mit einer Kapitulation, aber diese fand statt ohne dass das gesamte Deutsche Reich Schauplatz des Ersten Weltkriegs geworden war. Das sah 1945 anders aus. Und das ist vielleicht der Grund, warum der 8. Mai zwar ein wichtiger politischer Gedenktag wurde, aber weshalb er im individuellen Gedenken keinen Platz gefunden haben könnte. Als erste deutsche Stadt war Aachen bereits im Oktober 1944 besetzt worden, das linksrheinische Köln am 6. März 1945. Bis zum 8. Mai erlebten die Deutschen also individuell andere Daten als Ende des Zweiten Weltkriegs. Der Zivilbevölkerung mag der 8. Mai vielleicht nur als das “endgültige Kriegsende” vorgekommen sein.

Bis zum Jahr 1970 war der 8. Mai aber auch in der Bundesrepublik Deutschland kaum von Belang. Nach Kriegsende war der 8. Mai zunächst kein staatlich begangener Gedenktag, weder 1955 – zehn Jahre nach Kriegsende –, noch 1965 – zwanzig Jahre nach Kriegsende – wurde er „offiziell begangen“, eine Auseinandersetzung von Seiten des Bundespräsidenten mit dem Nationalsozialismus fand dagegen bei den Gedenktagen im Konzentrationslager Bergen-Belsen statt. Das bedeutete allerdings nicht, dass der 8. Mai politisch nicht wahrgenommen wurde. Am 8. Mai 1949 wurde das Grundgesetz angenommen. Die Bundesrepublik Deutschland gab es damit noch nicht, ihr offizielles Gründungsdatum ist der 23. Mai 1949, an diesem Tag trat das Grundgesetz in Kraft. Am Tag seiner Annahme, am 8. Mai 1949, blickte man aber auch auf das Kriegsende zurück, das an diesem Tag gerade einmal vier Jahre zurücklag. Für Walter Menzel war der Nationalsozialismus „schuld an dem Unglück, das über Deutschland und die Welt kam.“ Theodor Heuss sagte über das Kriegsende: „Erlöst und vernichtet in einem“. Thomas Dehler sah in der zukünftigen Bundesrepublik ein „Restchen deutscher Staat, das wieder gestaltet wird“ und für Carlo Schmid bedeutete das Kriegsende bereits eine „bessere Zukunft Deutschlands, Zukunft Europas“. Für Konrad Adenauer war dieser 8. Mai 1949 der erste Freudentag für Deutschland. In der sowjetisch besetzten Zone ((Die DDR wurde erst am 7. Oktober 1949 gegründet)) erfolgte am 8. Mai 1949 die Einweihung des Ehrenmals im Treptower Park in Berlin. Wilhelm Pieck forderte, man solle den „deutschen Namen wieder reinwaschen von seiner Beschmutzung durch die Hitlerschande.“ Pieck wies aber auch explizit den Deutschen Mitschuld und Verantwortung zu.

Mit Beginn der 1960er Jahre setzte in der Bundesrepublik Deutschland durch die Rezeption des Eichmann-Prozesses in Israel und die Frankfurter Auschwitz-Prozesse eine intensivere gesellschaftliche Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus ein. Bundespräsident Heinrich Lübke sagte über das Kriegsende am 25.4.1965 in Bergen-Belsen: „Nicht wir beschwören die Schatten, die Schatten beschwören uns, und es liegt nicht in unserer Macht, uns ihrem Bann zu entziehen.“ Die Einladung zum Empfang des sowjetischen Botschafters in Bonn anlässlich des Kriegsendes nahm Lübke nicht wahr. Der 8. Mai wurde 1965 auch deshalb nicht begangen, weil man sich von der DDR, die diesen Tag groß feierte, abgrenzen wollte. Das erste offizielle Gedenken von staatlicher Seite fand 25 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs am 8.5.1970 durch Bundespräsident Gustav Heinemann statt – in das gleiche Jahr fiel der Kniefall Willy Brands. Von diesem Zeitpunkt an gab es zu jedem runden Jahrestag des Kriegsendes eine Rede eines Bundespräsidenten. Im kulturellen Gedächtnis am positivsten verhaftet ist die Rede Richard von Weizsäckers am 8. Mai 1985, während der Besuch des Soldatenfriedhofs in Bitburg von Helmut Kohl und Ronald Reagan Kontroversen auslöste und der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Alfred Dregger vom deutschen „Volk das 12 Jahre lang einer braunen Diktatur unterworfen war“ sprach. In das Jahr fiel außerdem das Schlesiertreffen in Hannover mit der Forderung “Schlesien bleibt unser”. Gleichzeitig wurde die Rede Richard von Weizsäckers als “Durchbruchmoment” angesehen. Nach der Wiedervereinigung wurde der 8. Mai 1995 in Berlin zum ersten Mal als Staatsakt unter Beteiligung von vier Vertretern der Siegermächte begangen.

In der Deutschen Demokratischen Republik war der 8. Mai von Beginn an der „Tag der Befreiung“ und Teil des „antifaschistischen Staatskultes“ ((Vgl. Kirsch, Wir haben aus der Geschichte gelernt, S. 60.)). Bereits vor Gründung der DDR wurde am 8. Mai 1949 – vier Jahre nach Kriegsende – das Ehrenmal im Treptower Park in Berlin eingeweiht. Der Tag der Befreiung wurde besonders der Roten Armee zugeschrieben, während die Westalliierten sehr schnell wieder zum zu bekämpfenden Feindbild wurden. Das wurde auch im Umgang mit dem Bombenangriff auf Dresden in der Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945 deutlich, der als Kriegsverbrechen der kapitalistischen Westalliierten dargestellt wurde. Die Staatsakte dienten vor allem auch dazu die deutsch-sowjetische Freundschaft zu überhöhen. Die DDR speiste auch ihren Gründungsmythos aus dem Kriegsende: der Zweite Weltkrieg war nicht umsonst, denn aus ihm war die DDR entstanden, die sich selbst als antifaschistischen Staat proklamierte. Auch wurde der 8. Mai als Agitationspunkt gegen Westdeutschland genutzt. Die DDR nutzte die Jahrestage 1955, 1965, 1975 und 1985 vor allem zur Agitation gegen den Westen. Im Gegensatz zu Westdeutschland führte die Vereinnahmung des 8. Mais durch die SED-Diktatur zu einem gesamtgesellschaftlichen Gedenktag, der Staat „zwang“ seine Bürger sich am Gedenken zu beteiligen. Dennoch fand auch in der DDR am 8. Mai keine direkte Auseinandersetzung mit den Tätern statt, weil ein Existieren der NS-Täter in der DDR gegen die Staatsräson verstoßen hätte.

Thesen:

Die Beschäftigung mit dem 8. Mai stand in West- und Ostdeutschland bis 1989 immer im Spannungsverhältnis zum Kalten Krieg und der Beziehung zu den Westalliierten bzw. der Sowjetunion. Auch nach 1990 ist das Gedenken an den 8. Mai immer vom tagesaktuellen Geschehen geprägt gewesen. Das ist dadurch zu erklären, dass die wichtigsten politischen Funktionen von Gedenktagen Staats(re)präsentation, Integration durch Identifikation mit dem politischen System, Konsensstiftung, Schaffung von (Massen-)Loyalität und Stabilitätssicherung sind.

Sowohl in West- als auch in Ostdeutschland kam es unmittelbar nach 1945 zu einer starken Abgrenzung vom nationalsozialistischen Deutschland in dem Sinne, dass die „Kollektivschuld“ im Westen abgelehnt wurde, während der Staat im Osten sich durch das Adjektiv „antifaschistisch“ abgrenzte und sich auch nicht als Rechtsnachfolger des NS-Staates sah. Dadurch kam es in beiden Staaten zunächst nicht zur intensiven Beschäftigung mit deutschen NS-Tätern.

Nach der Wiedervereinigung wurde der 8. Mai 1945 für Ostdeutschland umgedeutet. Während die bedingungslose Kapitulation Westdeutschland die Demokratie brachte, konnte der 8. Mai 1945 in Ostdeutschland nicht als „Befreiungstag“ angesehen werden, weil er den Beginn des Aufbaus der SED-Diktatur markiert – was in den Reden des Bundespräsidenten bislang allerdings kaum bis keinen Niederschlag gefunden hat.

Der 8. Mai ist in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik Deutschland in erster Linie mit dem Wort Befreiung verknüpft. Diese Deutung der Befreiung klammert eine Beschäftigung mit den Verbrechen des NS größtenteils aus. Gedenktage an die Verbrechen des NS etablieren sich in der Bundesrepublik Deutschland – mit Ausnahme des Staatsaktes in Bergen-Belsen – erst vergleichsweise spät: in den 1980er Jahren kommt es zum ersten Mal zum offiziellen Gedenken an die Reichspogromnacht und erst 1996 wird ein Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus etabliert.

Literatur:
Kirsch, Jan-Holger: „Wir haben aus der Geschichte gelernt“. Der 8 Mai als politischer Gedenktag in Deutschland, Köln Weimar Wien 1999.

Knabe, Hubertus: Tag der Befreiung? Das Kriegsende in Ostdeutschland, Berlin 2005.

Schmaler, Dirk: Die Bundespräsidenten und die NS-Vergangenheit – zwischen Aufklärung und Verdrängung, Frankfurt a. M. 2013.