Sensation: Deutsches Reich doch nicht allein Schuld am Ersten Weltkrieg?

Große Neuigkeiten: der Tagesspiegel hat herausgefunden, dass man sich in Großbritannien anders an den Ersten Weltkrieg erinnert als in Deutschland. Gleichzeitig wird sich leicht darüber beschwert, dass der Erste Weltkrieg immer noch nicht vorbei sei. So käme es einem zumindest vor, wenn man sich das aktuelle Bohei durchlesen würde, was derzeit fabriziert wird ((Eine spontane Suche “Erster Weltkrieg” auf der Seite des Tagesspiegels bringt übrigens 64 Treffer.)). Meine Google Alert Suche zum Ersten Weltkrieg hat mir seit dem 1.1.2014 60 Alerts geschickt. Eingerichtet habe ich sie vor etwa einem halben Jahr und bis zum Jahreswechsel bekam ich ca. alle drei Tage eine E-mail.

Der Tagesspiegel deutet an der Erste Weltkrieg sei “weniger [Thema] in Deutschland, wo man eben nicht gern an die Weltkriege zurückdenkt.” Für den Zweiten Weltkrieg möchte ich das angesichts zahlreicher ZDF-Hysterie-Beiträge anzweifeln und vielmehr die These bestärken, dass der Zweite Weltkrieg den Ersten in der Erinnerungskultur verdeckt. Das kann meines Erachtens auch daran festgemacht werden, dass in der öffentlichen Beschäftigung mit dem Ersten Weltkrieg gerne mal vom “Zweiten Dreißigjährigen Krieg” geschrieben wird und sich besonders für die Kriegserfahrungen eines bestimmten Kriegsfreiwilligen in der Bayerischen Armee interessiert wird. Dass “festgeschriebene Sieger” eines Krieges eine andere Erinnerungspolitik als die “festgeschriebenen Unterlegenen” gestalten, dürfte auch ein Blick auf die Feierlichkeiten zum Sedantag klären.

Ein weiterer Punkt ist, dass die Widerlegung der Fischerthese Annahme, das Deutsche Reich trage die Alleinschuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs, in vielen Zeitungs- und Online-Artikeln plötzlich als bahnbrechende Neuigkeit formuliert wird. Ausländische Historiker sprechen die Deutschen von der Schuld am Ersten Weltkrieg frei. Dass die Thesen in Fritz Fischers Werk “Griff nach der Weltmacht” bereits im Jahr des Erscheinens von der Fachwelt kontrovers diskutiert wurden ((Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Fischerkontroverse#Historische_Debatte)), wird mit keinem Satz erwähnt. Dass Christopher Clark sich in seinem Buch viel stärker mit dem Balkan beschäftigt, das Deutsche Reich im Inhaltsverzeichnis der Schlafwandler eine eher nebensächliche Rolle einnimmt ((Von insgesamt über 500 Seiten gibt es elf Seiten zu “Belated Empire Germany”, drei Seiten zu “Who governed in Berlin?”, 15 Seiten zu “Germans on the Bosphorus”, elf Seiten zu “Count Hoyos goes to Berlin”)) und er sich stark mit der Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges und gar nicht so sehr mit dem Kriegsgeschehen an sich beschäftigt, wird häufig übergangen während man die Schlafwandler als “das wichtigste Buch zum Ersten Weltkrieg” anpreist.

Es scheint ein wenig, als sei man sehenden Auges in die publizistische Katastrophe gelaufen. Da ploppte plötzlich das Jahr 2014 auf, man wusste nicht weiter und statt sich mit der neueren Forschung ((eine ganze Reihe von Historikern bringen pünktlich in diesem Jahr ihre neuesten Erkenntnisse heraus)) zu beschäftigen, wärmte man 50 Jahre alte Kontroversen wieder auf und verkauft sie von nun an als Neuigkeiten.

1 comment

  1. Hm, bei der Überschrift hat sich dein Praktikum bei Buzzfeed und der Web.de-Nachrichtenredaktion richtig gelohnt ;)